Auf einer Skala von 1 bis 10

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Tamar ist dreizehn, vierzehn. Sie sitzt ein, in sich selbst drin sitzt sie und kommt nicht raus. Um sie davon zu heilen, sperren sie sie nochmal ein und nehmen ihr alles weg, womit sie sich verletzten könnte, alles was scharf ist, spitz, lang und dünn, heiß, alles was schneiden könnte, reißen, stechen, würgen, verbrennen, vergiften. Um sie davon abzuhalten, Gift zu nehmen, geben sie ihr legale Gifte in kaum noch erträglichen Dosen, denn schlafen muss sein, egal wie. Sie ist in ihrem doppelten Gefängnis und schaut raus, schaut auf die Anderen, blickt auf sich. Normal ist sie auf keinen Fall. Sie soll aber wieder normal werden und wäre es auch manchmal gern wieder, manchmal auch gar nicht, aber die Schmerzen sind oft zu groß, es noch aushalten zu können, deshalb müssen andere, stärkere Schmerzen her. Das ist alles verständlich, sie versteht und weiß es gut, doch es bringt sie um den Verstand. Sie hat nichts, wofür man sie bedauern würde, Mitleid mit ihr hätte. Man will sie nicht dafür in den Arm nehmen, nur Entsetzen vor ihr ist es, was sie spürt und sie gibt ihnen Recht. Sie haben ja Recht, sie so abstoßend zu finden, darum muss sie sich wegmachen, sich bestrafen, denn Schuld ist sie außerdem. Sie sitzt in sich drin, und kommt nicht raus.

Ceylan Scott hat das selbst erlebt, wovon sie schreibt, und ist selbst kaum älter als Ihre Heldin: „Wie fühlst du dich heute auf einer Skala von 1 bis 10?“ – „Null“ – Einen Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie, weil sie sich selbst gefährdet, weil sie sich ritzt, weil sie versucht hat, sich selbst umzubringen und es wieder tun würde, weil sie sich schuldig hält für den Tod ihrer Freundin. Ihre Mitinsassen werden ihre Freunde. Die Psychiatrie wird ihr Zuhause, mehr als ihr eigenes Zuhause, das ihr fremd geworden ist. Eine Mitinsassin ist noch verrückter als sie, aber sprüht vor Leben, so lange wie es eben ausreicht, das Leben. Ein anderer müht sich redlich zu essen, aber es gelingt ihm nur schwer und unter Protest und auch unter Zwang. Gut, dass auch mal ein Junge dargestellt wird, mit einer Essstörung, denn das gibt es auch. Gerade noch machen die Pfleger Späße mit ihren Schützlingen, dann müssen sie auch schon einen unter Zwangsmaßnahmen setzen und ihm Spritzen verpassen und ruhigstellen, weil er ausgerastet ist.

Das ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden, nur auf einem anderen Weg, als ihn die Mehrheit beschreitet. Ein heftigerer, krasserer Weg, ein tieferer Weg, ein sehr schwerer und schwieriger Weg, ein harter Weg, ein Weg mit ungewissem Ausgang – wie jedes Erwachsenwerden. Jugendliche, denen es ähnlich geht wie Tamar, finden hier eine Leidensgenossen, die auch etwas Licht ins Dunkel des eigenen, zerwühlten Innern bringt, mit warmen Worten, mit Liebe zum Leben, mit Spott und Witz, mit herzlicher Verzweiflung. Jugendliche, die solche Freunde haben, die sind wie Tamar, können besser verstehen, was da vor sich geht in dem Anderen, der so anders geworden ist. Und dieses Buch ist auch unbedingt etwas für Erwachsene! – Eltern, Großeltern, Geschwister, Mitschüler, Lehrer, Verwandte und Bekannte können erfahren, was es heißt solch einen steinigen Weg im Erwachsenwerden gehen zu müssen – damit sie sich nicht abwenden, damit sie sich nicht entsetzten, sondern vielleicht einfach die Arme ausbreiten, umarmen und lieb haben, so schwierig es ist, so sehr sie gescholten und bespuckt werden von dem noch-Kind, das sie da in die Arme schließen. Weil es gerade nicht anders kann, als sich zu wehren, nicht aus seiner Haut herauskann, so gern es nicht in DIESER Haut leben müsste und sie sich deshalb aufritzt, damit es herausfließen kann aus dieser ungeliebten Haut. Wir sollten aber diese Haut, und alles was darin ist, zusammenhalten, beschützen und mit ihr zusammen aus- und durchhalten.

empfohlen von Dieter Siebert

Eckdaten:
Titel: Auf einer Skala von 1 bis 10
Autor*in: Ceylan Scott
Verlag: Chicken House, 2019
Alter: ab 14 Jahren
Besonderheiten: Leben in der Psychiatrie, Erwachsen werden
 
Sternebewertung:
Spannung: XXX
Humor: XX
Erfinden: –
Wissen: XXXX
Sinnliches: XX

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