Hinter Glas

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Julya Rabinowich erzählt intensiv, eindringlich und mit poetischer Kraft über laute und leise Facetten der Gewalt und dazu die Geschichte einer Emanzipation.
Gewalt hat viele Gesichter: die leise, ins fleischschneidende Gewalt, diejenige, die Glassplitter atmen lässt, eine solche, die bis zum Erbrechen und Blutspucken führt. Für Liebe ist der Mensch im Stande viel auszuhalten, viel zu viel. Der Großvater, der verlangt, dass Alice Mutter ihre Karriere als erfolgreiche Schauspielerin zurückschrauben soll, der nicht ertragen kann, dass ihm nicht alle ausgeliefert sind, der es nicht erträgt, keine Macht über andere zu haben, der sich ernährt von blutgetränktem Geld, der eine Schwangere schlägt und Alice zum Frühchen macht. Der Vater, der zu schwach ist, sich gegen seinen Vater aufzulehnen. Teuer bezahlte Ärzte – vom Großvater gesponsort, retten Alice das Leben und bauen der jungen Familie einen goldenen Käfig, zementiert mit Schuldmörtel, aus Abhängigkeiten. Einen leblosen, sterilen Käfig: Die Mutter flüchtet sich in die Mutterrolle, ihre Fürsorge quillt über und lässt Alice ersticken, der Vater funktioniert; seinen Sohn hält der Großvater im Versagen und ja, er versagt sich alles, der Sohn: das Mannsein, das Vatersein, nur Sohn sein, guter Sohn sein, das wollte und will er wohl, bis Alice, seine Tochter ausbricht…
Sie hält die Enge und Stille, die Tyrannei des Großvaters nicht mehr aus. Flieht zu Niko, ihrer ersten großen Liebe. Von ihm erhofft sie sich Geborgenheit und Halt. Mit ihm verbringt sie einen Sommer voller Freiheit. Ihre Haare – nun eher blau mit leichtem Grünstich statt lieblich blond. Seetang. Lässig. Alice hat den Geschmack der Rebellion auf der Zunge, ist bereit Lieder von ihr zu singen. Fühlt sich losgelöst, fühlt sich leicht und frei. Doch Nico verändert sich, ist zunehmend unbeherrscht, voller Wut und immer wieder Gewalt. Im Moment der größten Verzweiflung gelingt es Alice, sich erneut zu befreien. Dea hilft ihr. Ein Hund, der im Nebel der Verzweiflung und Einsamkeit auftaucht, gibt Kraft, Wärme, weicht nicht von ihrer Seite. Beschützt sie. Ist ihr treu. Ihr allein. Später erkennt sie: Dea ist ein Teil von ihr. Der Teil, der sich an alles erinnert. An alles! Dea ist der älteste Teil von ihr. Jener, der sie damals in diesen kritischen Tagen überleben ließ, der sie ins Leben begleitet hatte. Unfassbar mutig setzt Alice einen Schritt vor den nächsten und klebt Scherbe für Scherbe ihres Lebens zusammen. Ich verneige mich vor Dir – Alice!
Das Buch greift viele Themen auf. Das größte Thema ist physische Gewalt – in dysfunktionalen Familien, auf dem Pausenhof, in der Öffentlichkeit. Wer sind die Beteiligten? Die Aktiven, diejenigen, die nicht eingreifen, diejenigen, die ertragen? Die Charaktere des Buches sind facettenreich, entwickeln sich weiter. Viele kurze Sätze. Glasklar zersplittert die Sprache auf der Zunge und hinterlässt Spuren. Ein wichtiges Jugendbuch.

empfohlen von Prof. Dr. Sandra Niebuhr-Siebert

Sternebewertung:
Spannung: XXXXX
Humor:X
Erfinden: X
Wissen: XXXXX
Sinnliches: XXX

Eckdaten:
Titel: Hinter Glas
Autorin: Julya Rabinowich
Verlag: Hanser-Verlag
Alter: ab 14 Jahren

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